Praxisbeispiel

„Lobau bleibt!“

Kollage, Fotos von Aktionen bei der Baustelle
"Lobau bleibt"-Collage (Fotos: Tom Poe, Christopher Glanzl, Phili Kaufmann, Lobau Bleibt, Julian Kragler
Praxisbeispiel_Lobaubleibt
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Projektbeschreibung

„Lobau Bleibt“ ist ein vielfältiges, zivilgesellschaftliches Bündnis von Klimaaktivist:innen, Anrainer:innen und Umweltschützer:innen, das ab Herbst 2021 mit Baustellenbesetzungen, Protestcamps, Zeitungsprojekten, Großdemonstrationen u.v.m. den geplanten Bau der klimaschädlichen Lobau-Autobahn und der dazugehörigen Straßenprojekte bekämpfte.

Ein Erfolg für die Bewegung ist die vorläufige Absage des Lobau-Tunnels im Dezember 2021 – doch der Kampf für eine zukunftsfähige Mobilität ist leider noch lange nicht zu Ende: Genehmigungs- und Enteignungsverfahren für die S1-Lobau-Autobahn laufen weiter…

Anlass und Hintergrund

Mit den drei Lobau-Fahrradexkursionen bzw. -demos im Frühjahr 2021 – „AU-BOTANIK statt AUTO-BAHN!“ (21. März), „Eine andere Mobilität ist notwendig – Keine neuen Autobahnen!“ (24. April) und „Wir lassen uns die Zukunft nicht verbauen!“ (3. Juni) formte sich eine Allianz aus den Bürger:innen-Initiativen „Rettet die Lobau – Natur statt Beton“, „Hirschstetten retten“ und der Klimagerechtigkeitsbewegung.

Am 27. August 2021 wurde auf der Grünanlage bzw. dem Park Anfanggasse in Wien-Donaustadt ein Protest-Camp für zukunftsfähige Mobilität und den Stopp fossiler Autobahnprojekte von einem breiten Bündnis aus „Fridays for Future Wien“, dem „Jugendrat“, „System Change Not Climate Change“, „Extinction Rebellion“ und den Lebensmittelretter:innen von „Robin Foods“ sowie lokalen Bürger:innen-Initiativen („Hirschstetten retten“, „Rettet die Lobau – Natur statt Beton“) und Einzelpersonen errichtet.

Mehrere Baustellenbesetzungen der Stadtautobahn Aspern folgten: Am 30. August 2021 wurde die als Tagesaktion geplante Baustellen-Besetzung an der Hirschstettner Straße 44 wider Erwarten nicht geräumt. Die Aktivist:innen entschieden sich, zu bleiben und gründeten das „Grätzl 1“. Wenige Tage später wurde die Baustelle Hausfeldstraße zur zweiten Dauerbesetzung: Die „Wüste“, das karge, die Äcker begrabende Steinfeld wurde ebenfalls mit Zelten und Holzhäusern belebt. Die als Winterquartier erbaute, dreistöckige Holzpyramide wurde zum berühmten Symbol der Besetzung.

Der Protest wirkte: Am 1.12. 2021 sagte die zuständige Ministerin Leonore Gewessler die S1-Lobau-Autobahn ab, „Lobau Bleibt“ forderte zudem den Baustopp für die Zubringer, „Stadtstraße“ und S1-Spange.

Ziel(e)

Im Sinne von „Think global, act local“ inmitten der Klimakrise zielt „Lobau Bleibt“ auf ein klimafreundliches Mobilitätskonzept, das eine Abkehr vom fossilen Individualverkehr bedeutet, sowie Klimagerechtigkeit und den Erhalt unserer Lebensgrundlagen im Allgemeinen ab; und verfolgt im Konkreten das Ziel, den Bau neuer Autobahnen – insbesondere der S1-Lobauautobahn (inklusive Lobautunnel) und deren Zubringer „Spange S1“ und der Stadtautobahn „Stadtstraße Aspern“ – zu verhindern.

„Lobau Bleibt“ kämpft nicht nur für eine sozial- und klimagerechte Mobilitätswende, sondern auch für die Entwicklung einer zukunftsfähigen, solidarischen Gesellschaft, in der eine intakte Umwelt und soziale Gerechtigkeit langfristig die Lebensqualität aller Menschen sichern. „Lobau Bleibt“ wird getragen vom zivilgesellschaftlichen Engagement von Menschen, die sich für öffentliche Anliegen einsetzen, für eine lebendige Demokratie und für eine langfristige nachhaltige Entwicklung.

Prozessdesign und Ablauf

Mit zivilem Ungehorsam gegen die Klimakrise

Durch Baustellen-Besetzungen hat sich „Lobau Bleibt“ von Anfang an zu zivilem Ungehorsam als Aktionsform bekannt. Dies bedeutet, sich gewaltlos und passiv über den gesetzlich vorgegebenen Rahmen von Protest hinwegzusetzen, sich z.B. auf eine Baustelle zu setzen und auch auf Aufforderung der Polizei nicht zu gehen.

Laut Hannah Arendt entsteht ziviler Ungehorsam, „wenn eine bedeutende Anzahl von Staatsbürgern zu der Überzeugung gelangt ist, dass entweder die herkömmlichen Wege der Veränderung nicht mehr offenstehen bzw. auf Beschwerden nicht gehört und eingegangen wird oder dass im Gegenteil die Regierung dabei ist, ihrerseits Änderungen anzustreben, und dann beharrlich auf einem Kurs bleibt, dessen Gesetzes- und Verfassungsmäßigkeit schwerwiegende Zweifel aufwirft“. (Hannah Arendt, Macht und Gewalt, München, Zürich 1970. S. 135.)

„Lobau Bleibt“ sieht zivilen Ungehorsam als legitim an, wenn alle legalen Protestmittel gegen eine wahrgenommene Ungerechtigkeit ausgeschöpft wurden. Die Untätigkeit der Politik war der Grund, dass die Klimagerechtigkeitsbewegung in den vergangenen Jahren vermehrt zivilen Ungehorsam einsetzte.

Nach fünf Monaten Besetzung kam es schließlich zur ersten Räumung: Am Morgen des 1. Februar 2022 kamen hunderte Polizist:innen zur besetzen Baustelle „Wüste“, das Gelände wurde weiträumig abgesperrt und der nahegelegene U-Bahnhof Hausfeldstraße geschlossen. Die von den Aktivist:innen aufgebauten Strukturen wurden zerstört und es wurde begonnen hunderte Bäume zu fällen. Am Abend fand vor der SPÖ-Zentrale eine Kundgebung statt, zu der tausende Menschen kamen.

Am 5. April räumten rund 400 Polizist:innen die zweite Baustellenbesetzung „Grätzl 1“. Die erheblichen Einschränkungen der Versammlungs- und Pressefreiheit – Beobachter:innen und Journalist:innen wurden daran gehindert, zur angemeldeten Kundgebung von „Global 2000“ vor Ort zu kommen – wurde von „Reportern ohne Grenzen“ scharf kritisiert.

Eine der folgenden Höhepunkte der „Lobau Bleibt“-Bewegung war die Woche vom 22.-29. Mai mit Klimacamp, Großdemo beim SPÖ-Landesparteitag und dem Aktionstag am 25. Mai, als mehr als 150 Aktivist:innen die „Wüste“ wiederbesetzten.

„Lobau Bleibt“ ist unräumbar

Das Camp im Park Anfanggasse war offiziell als Mahnwache für die Dauer einer Woche geplant, es stand dann ein gutes Jahr lang als Experimentier- und Entfaltungsraum für das Zusammenleben von Menschen, Projekte wurden gestartet und neue Dinge ausprobiert. Das Camp bot u.a. ein Küchenzelt, ein Lebensmittelzelt für gerettete Lebensmittel, ein Wohnzimmerzelt, eine Abwasch-Station, ein Materialzelt, ein Kost-Nix-Laden-Zelt, eine Bühne, Öklos und Pavillons sowie eine Jurte.

Besonderheiten des Camps in der Anfanggasse:

  • Gerettete Lebensmittel: Von „Robin Foods“ wurden Lebensmittel geliefert, die sonst im Müll gelandet wären. Im Camp wurden daraus köstliche Eintöpfe, die gratis allen Anwesenden zur Verfügung gestellt wurden. Weiters wurden im „Lobau Bleibt“ – Camp die geretteten Lebensmittel gratis verteilt – teilweise auch beim Gemeindebau in der Nähe. Es gab diesbezüglich regen Austausch mit Anrainer:innen, z.B. hat eine Alleinerzieherin mit 5 Kindern regelmäßig Obst und Gemüse abgeholt und dann damit zubereitete Speisen als Dankeschön vorbeigebracht. Soziale Gerechtigkeit und nachhaltiger Umgang mit Ressourcen im Camp wurden täglich vorgelebt.
  • Kost-Nix-Laden-Zelt: Deshalb gab es im Camp auch ein „Kost-Nix-Laden-Zelt“, wo Alt-Kleidung vorbeigebracht und gratis abgeholt werden konnte.
  • Information und Workshops: Im Camp konnten sich Passant:innen jederzeit über Klimakrise und Klimaschutz informieren. Es wurden auch diverse Infoevents und Workshops angeboten.
  • Kunst, Kultur + Treffpunkt: Das vielfältige, kostenlos von Künstler:innen und Freiwilligen angebotene Kulturangebot umfasste Puppentheater, Konzerte, Filmvorführungen, Vorträge bis hin zu einem mehrteiligen „Kultur-statt-Beton-Festival“. Kunstwerke entstanden, die Kritik in kreativen Aktionen wirksam an die Öffentlichkeit brachten, wie z.B. die Skulptur „Beton-Bürgermeister“, eine 1,5m hohe Büste von Wiens aktuellem Bürgermeister Michael Ludwig. Künstler:innen von „Extinction Rebellion“ schufen die Skulptur „Nana“ – zusammen mit dem Banner „Finger weg von unseren Feuchtgebieten“ – ein Protest gegen die Zerstörung der Lobau. Das Camp war ein offener Ort der Zusammenkunft – unkompliziert, frei gestaltbar und kostenlos. Es wurde gemeinsam Fußball gespielt oder beim Anrainer:innen-Brunch geplaudert. Lernhilfe wurde gratis angeboten bzw. ein Ort für gemeinsame Schul-Hausaufgaben zur Verfügung gestellt. Dialog und Rücksichtnahme wurden im Camp großgeschrieben. Ein Alkohol- und Drogenverbot sowie die 2G-Regel während der Pandemie trugen dazu bei, dass sich alle wohlfühlten.
  • Basisdemokratischer Entscheidungsprozess: Die Menschen vor Ort trafen Entscheidungen gemeinsam in regelmäßigen Plena. Auf diese Weise wurde auch der Grätzlkonsens in mehreren Runden erarbeitet.

Im Folgenden ein Auszug aus dem Grätzlkonsens (Stand 12.11.2021):

Der Grätzlkonsens stellt den verbindlichen Rahmen dar, in dem wir im Camp und in den Grätzln unser Zusammenleben gestalten. Er wurde in einem gemeinsamen Prozess entworfen und im Konsens beschlossen. Alle Menschen, die sich dieser Vereinbarung anschließen, laden wir herzlich ein, sich am Camp und in den Grätzln zu beteiligen. Der Grätzlkonsens ist ein stetiger Prozess und kann fortlaufend erweitert werden.

  • Wir wollen Menschen mit Respekt und Wohlwollen begegnen.
  • Wir stellen uns entschlossen gegen jegliche Form von Rassismus, Sexismus, Antisemitismus, Ableismus, Nationalismus und jede andere Diskriminierung. Wir bitten alle, aber insbesondere weiße cis-Männer ihre Privilegien, Auftreten und Gesprächsverhalten zu reflektieren.
  • Bei Verstößen gegen den Grätzlkonsens versuchen wir die Probleme zunächst einvernehmlich im Dialog zu lösen. Erst wenn klärende Gespräche gescheitert sind, kann ein Plenum angekündigt und einberufen werden, bei dem Verwarnungen bis hin zum Ausschluss der Person diskutiert und im Plenum beschlossen werden.
  • Ein faires Miteinander, Gewaltlosigkeit, Dialog und Inklusion sind der Bewegung ebenso wichtig, wie Klimagerechtigkeit und der Erhalt unserer Lebensgrundlagen. Dieser inklusive Raum stand allen offen, die bereit waren, anderen mit Respekt und Wertschätzung zu begegnen. Inklusion (als Gegenteil von Diskriminierung) wurde vorgelebt.

Basisdemokratie zeichnet „Lobau Bleibt“ weiterhin aus. Alle mitwirkenden Personen können sich gleichberechtigt an Entscheidungsprozessen beteiligen. Bei regelmäßig stattfindenden Plena wird diskutiert und miteinander verhandelt, Entscheidungen werden im Konsens getroffen. Die „Lobau Bleibt“-Bewegung zeichnet sich durch Vielfalt an unzähligen Menschen und verschiedenen Initiativen aus.

Die Wiener Stadtregierung will laut eigenem Beschluss bis 2030 den Individualverkehr annähernd halbieren, gleichzeitig aber veraltete Fehlentwicklungen in Beton gießen. Damit führt sie die aufgrund der Klimakrise so dringliche Mobilitätswende, den konsequenten Ausbau des Öffentlichen Verkehrs und das Ende der Flächenversiegelung vollends ad absurdum. Entgegen der Behauptung der Stadt Wien, der Bau der sogenannten „Stadtstraße“ sei alternativlos, zeigten eine Vielzahl von Ideen alternative Verkehrskonzepte in der Donaustadt.

Vortrags- und Diskussionsformate sowie Streckenbesichtigungen der „Lobau Bleibt“-Bewegung thematisierten nicht nur die zerstörerisch-verwüstende Spur der Stadtautobahn, sie zeigten zukunftsorientierte, soziale Bausteine einer alternativen Mobilitätswende für Transdanubien. Initiativen von Wissenschaft:innen wie „PlatzFürWien“ und „Scientists4Future“ haben ihre Expertisen zur Attraktivierung der in Transdanubien dramatisch vernachlässigten Öffis sowie zur aktiven Reduktion des motorisierten Individualverkehr eingebracht, zivilgesellschaftliche Akteur:innen entwickelten Projekte wie die Rad-Langstrecke OST mit OSTPARK des Stadtforschers Norbert Mayr (2021) oder – um nur einen Schwerpunkt des seit dem Sommer 2021 aktiven „Lobau Forums“ zu nennen – eine „Belebung des vorhandenen Schienennetzes als Alternative zu neuen Stadtautobahnen“. „Lobau Bleibt“ hat sich österreichweit vernetzt, so organisierte die Bewegung z.B. die Österreichweite Mobilitätswende-Konferenz 10./11. September 2022.

Die Klimakrise als soziale Krise (be)trifft nicht nur die Donaustädter:innen. Das besondere Bündnis „Lobau Bleibt“ verknüpft den lokalen Kampf für eine soziale Mobilitätswende mit dem globalen Kampf für Klimagerechtigkeit und gegen die Ausbeutung von Mensch und Natur, schließlich sind wir Industrieländer Verursacher der dramatisch sich verschärfenden Umweltfolgen der Klimakatastrophe in Regionen des globalen Südens.

Öffentliche Orte dienten der Information und des Diskurses. Wissenschafter:innen und Aktivist:innen konzipierten und begleiteten 2022 Ausstellungen. Die erste von fünf Varianten des Formats „LOBAU BLEIBT – Dokumente des Widerstandes gegen eine zukunftsfeindliche Stadtentwicklungspolitik“ startete im Mai an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich, ab Sommer in Wien mit „Exponaten in Aktion“ – Banner und Objekte wechselten temporär in den Öffentlichen Raum. Dem

Bezirksmuseum Wien-Neubau als Standort folgte im Herbst die Donaucitykirche in der Donaustadt und das „Quo vadis?“ direkt am Stephansplatz, im November die Pfarre Lainz-Speising. Hinzu kam die wichtige „LOBAUsstellung“ im Kollektiv Kaorle im Juni 2022.

Museen sammeln Objekt von „Lobau Bleibt“, z.B. gingen Banner an das „Haus der Geschichte Österreich“, das „Wien Museum“ kaufte u.a. eine umfassende Fotostrecke an. Die Ausstellung „VON ZWENTENDORF ZU CO₂ – Kämpfe der Umweltbewegung in Österreich“ im Volkskundemuseum Wien (20. 1. – 26. 3.2023) endet mit der „Lobau Bleibt“- und Klimaschutz-Bewegung. Bei der Ausstellung „Protest / Architektur (Barrikaden, Camps und Smartphones – Konflikte im öffentlichen Raum zwischen 1848 und 2023)“ zeigt u.a. ein maßstabsgetreues Modell der Lobau Bleibt-Pyramide, die auf der besetzten Baustelle „Wüste“ errichtet wurde (Ausstellungsdauer 16.09. – 14.01.2024).

„Die Klimakrise eskaliert weiter, weil Ausreden & Scheinklimaschutz oft Erfolg haben,“ analysiert Reinhard Steurer, Professor für Klimapolitik an der Universität für Bodenkultur (BOKU) Wien. Deshalb sind Bewegungen für Klimagerechtigkeit wie „Lobau Bleibt“ dringlicher denn je.

Ergebnisse des Beteiligungsprozesses

Von „Lobau Bleibt“ gingen viele Impulse zu einer Veränderung unserer Gesellschaft in Richtung Nachhaltigkeit aus. „Lobau Bleibt“ hat die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die fehlende Verkehrswende – auf den Lobau-Tunnel (inklusive Spange S1 und Stadtstraße Aspern) im Konkreten – und Fragen der globalen Klimagerechtigkeit im Allgemeinen sehr erfolgreich gelenkt und Bewusstsein für diese Themen erzeugt. Es wurden Alternativen erarbeitet und kommuniziert. Soziale Gerechtigkeit und Klimaschutz bzw. Klimagerechtigkeit wurden nicht nur thematisiert, sondern auch vorgelebt.

Warum es sinnvoll war, mit Beteiligung zu arbeiten

Der Open Space hat Raum für neue Ideen und kreative Lösungsansätze zum Thema „Verwaltung der Zukunft“ angeboten. Die Anwesenden haben die Möglichkeit genutzt, sich zu vernetzen und Ideen weiterzuentwickeln, die in produktive Aktionen umgesetzt werden können.

Prozessbegleitung und -beratung

selbstorganisiert