Allgemein
Geschichten zu lauschen und sich daraus etwas fürs eigene Leben mitzunehmen, ist die älteste Lernmethode der Welt. Die Methode des Collective Story Harvesting baut darauf auf und setzt unter anderem bei unserer Sehnsucht nach Held:innen-Geschichten an, bei unserer Neugier, wie andere Menschen Hindernisse überwinden, wie sie Verbündete finden oder wo ihre geheimen Kraftkammern verborgen sind.
Das Collective Story Harvesting eignet sich sehr gut für „learning communities“ – also für Gruppen von Menschen, die mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert sind, für die es noch nicht den EINEN Lösungsweg, aber bereits verschiedene Lösungsansätze gibt, welche durch die Geschichten einzelner Teilnehmer:innen illustriert werden können. Während die „Storyteller“ im Vorfeld darin unterrichtet werden, wie sie ihre Geschichte am besten erzählen, erhalten die Zuhörer:innen eine kurze Einschulung ins aktiv-empathische Zuhören und bekommen fallweise Fokusfragen mit auf den Weg, welche das gezielte Zuhören erleichtern.
Collective Story Harvesting ist eine Gemeinschafts-bildende und -stärkende Methode, die von Teilnehmer:innen als in die Tiefe gehend und nachhaltig wirksam erlebt wird. Sie kommt aus dem Repertoire von Art of Hosting und Harvesting und geht zurück auf Mary Alice Arthur, Monica Nissén und Toke Møller.
In der folgenden Methodenbeschreibung wird auf das Art of Hosting and Harvesting-Handbuch des Büros für Freiwilliges Engagement und Beteiligung des Amts der Vorarlberger Landesregierung zurückgegriffen sowie auf eigene Anwendungserfahrungen des Redaktionsteams von partizipation.at.
Ablauf
Um die Methode des Collective Story Harvesting gut anwenden zu können, braucht es zunächst einiges an Vorbereitungsarbeit. Dazu gehört:
- Abstecken des Themenfelds, innerhalb dessen die Geschichten spielen sollen: Worüber sollen Geschichten des Lernens und des Gelingens erzählt werden? Welche von vielen geteilte Herausforderung soll im Mittelpunkt des Zusammenkommens stehen?
- Auswahl geeigneter Storyteller: Welche Menschen haben im Rahmen des gewählten Themenfeldes bzw. der definierten Herausforderung erfolgreich Hindernisse bewältigt, überraschende Lösungen gefunden, gute Verbündete gewonnen etc. und können lebendig und anschaulich davon berichten?
Um eine gewisse Diversität an Geschichten zu erreichen, sollten zumindest 3 Storyteller gewonnen werden. - Vorgespräche mit den Storytellern und erstes Briefing zur Methode und zum Aufbau der Geschichte, die am besten dem Muster von Held:innen-Erzählungen in Märchen folgen sollte: (1) Aufbruch aus unbefriedigender Situation auf der Suche nach einem besseren Leben, einer besseren Welt; (2) Kampf mit Hindernissen; (3) Hilfe durch „gute Geister“/ Verbündete; (4) Besiegen der Widerstände mit vereinten Kräften; (5) erfolgreicher Aufbau einer neuen Lebens-, Wirtschafts-, Gesellschaftssituation, die als besser als die Ausgangssituation wahrgenommen werden kann.
- Einladung von Teilnehmer:innen bzw. Zuhörer:innen, die Gewinn und Inspiration aus den Geschichten der Storyteller ziehen könn(t)en.
- Einbindung von ausreichend Co-Hosts, welche die Kleingruppen rund um die Storyteller moderieren, sowie Briefing der Co-Hosts über Ablauf und Methode.
Der Ablauf vor Ort gliedert sich in folgende Schritte:
Einführung – 10 bis 20 min
- Erklärung Ablauf Collective Story Harvest
- Fakultativ: Wenn ausreichend Zeit da ist, kann an dieser Stelle auch eine Einführung in gutes, zugewandtes Zuhören gegeben werden.
Vorstellung / „Pitches“ der Storyteller – max. 2 min pro Storyteller
Die Storyteller haben jeweils max. 2 Minuten Zeit, den Kern ihrer Geschichten kurz vorzustellen. Am Beginn dieses „Pitches“ sollte eine prägnante Überschrift, eine Interesse weckende „Schlagzeile“ stehen.
(Beim Finden dieser Überschrift kann das Hostingteam gerne im Vorfeld behilflich sein!)
Teilnehmer:innen ordnen sich zu – 5 min
Die Teilnehmer:innen werden eingeladen, zunächst kurz in Stille nachzudenken, welche der Geschichten-Überschriften sie am meisten angesprochen haben, zu welchen Storytellern es sie hinzieht. Sie sollten sich am besten zwei oder drei Optionen überlegen, falls ihre Wunsch-Option schon „überbelegt“ ist.
Danach ordnen sich die Teilnehmer:innen den Storytellern im Raum zu. Das Hostingteam achtet darauf, dass die Gruppengröße bei allen Storytellern annähernd gleich groß ist.
Geschichten-Erzählen in der Kleingruppe – ca. 30 min
- Co-Host begrüßt Storyteller und Zuhörer:innen und stellt sich selbst kurz vor
- Hinweis auf Fokusfragen, die vorab auf Sesseln verteilt wurden. Fokusfragen sollen die Ohren einzelner Teilnehmer:innen für bestimmte Elemente der Erzählung schärfen, z. B.: „Wer waren die Verbündeten des Storytellers?“ oder „Welche Kraftquellen hatte der Storyteller zur Verfügung?“.
Zuhörer:innen mit solchen Fokusfragen versuchen dann, diese Aspekte besonders gut „herauszuhören“. - Der Storyteller erzählt ohne Unterbrechung die Geschichte (15 – 20 min). Währenddessen sind keine Rückfragen der Zuhörer:innen erwünscht.
- Co-Host weist den Storyteller ca. 5 min vor Ende auf die Zeit hin.
Ernte in der Kleingruppe – 20 bis 40 min
- Zuerst sagen die Zuhörer:innen, die Fokusfragen erhalten haben, was sie mit „ihrem Ohr“ gehört haben, beginnend mit der Person, die Fokusfrage 1 hatte, dann die Person mit Fokusfrage 2, dann 3 usw.
- Anschließend teilen alle anderen Zuhörer:innen, die keine Fokusfragen mitbekommen haben, was sie gehört haben bzw. sich aus der Geschichte mitnehmen.
- Wenn nötig, können auch Verständnisfragen an den Storyteller gestellt werden, das sollte jedoch nicht zu viel Raum einnehmen und nicht zu sehr ins Detail gehen.
- Abschließend wird die Ernte in der Großgruppe vorbereitet. Zum Beispiel indem der Co-Host die Zuhörenden fragt, was die wichtigsten Learnings aus der Geschichte waren und die Antworten sammelt. Weiters wird ausgemacht, wer im Plenum eine kurze Zusammenfassung der Kleingruppendiskussion geben wird.
- Zum Schluss gibt der Co-Host dem Storyteller das Wort und fragt, welche Einsichten sie/er aus den Rückspiegelungen der Zuhörer:innen gewonnen hat.
Wichtig: Für die Ernte in der Kleingruppe braucht man mindestens so viel Zeit wie für das Erzählen der Geschichte.
Gemeinsames Ernten in der Großgruppe – ca. 45 min (abhängig von Gruppengröße und Anzahl der Storyteller)
Für das gemeinsame Ernten in der Großgruppe gibt es je nach zeitlichen Ressourcen und Größe der Gruppe verschiedene Möglichkeiten der Gestaltung. Die hier angeführten Elemente können an die jeweilige Situation vor Ort angepasst und zusammengestellt werden:
- Alle Teilnehmer:innen, welche die gleichen Fokusfragen hatten, setzen sich zunächst in Kleingruppen zusammen, versuchen, einer übergeordneten Frage nachzugehen („Metaharvesting“) und berichten anschließend im Plenum von ihren Erkenntnissen.
- Die jeweiligen Berichterstatter:innen aus den Storyteller-Gruppen berichten im Plenum von den Learnings ihrer Kleingruppe.
- Festhalten der gemeinsamen Essenzen, der „golden nuggets“, die man aus dem gemeinsamen Lernen von den Geschichten mitnimmt.
Wie viel Zeit man dem Ablauf eines Collective Story Harvesting gibt, ist abhängig von der Anzahl der Teilnehmer:innen, der Anzahl der Storyteller und allgemein den zeitlichen Ressourcen aller Beteiligten. Es sollten dafür aber zumindest 90 Minuten eingeplant werden, ideal sind zwei bis drei Stunden.
Organisatorisches
Die Storyteller sitzen meistens gemeinsam mit den Zuhörer:innen in einem Stuhlkreis. Es ist jedenfalls darauf zu achten, dass das Setting allen ein gutes Zuhören ermöglicht. Die Stuhlkreise der einzelnen Storyteller müssen auch ausreichend weit auseinander aufgestellt werden, damit es zu keinen akustischen Beeinträchtigungen kommt.
Wenn man eine Collective-Story-Harvesting-Einheit in eine Veranstaltung integrieren möchte, gilt es einerseits zu bedenken, wie viele Storyteller der zur Verfügung stehende Raum zulässt, aber auch wie viele Storyteller man braucht, um allen Teilnehmer:innen gutes Zuhören ermöglichen zu können. Meistens sind 15 Teilnehmer:innen pro Geschichtenkreis das Maximum.
Wird das Collective Story Harvesting online durchgeführt, wird ein Videokonferenztool mit der Funktion „Breakouträume“ benötigt.
Zu beachten
- Den Recherche-Aufwand zum Finden geeigneter Geschichten und geeigneter Storyteller nicht unterschätzen!
- Die Storyteller brauchen vorab ein ausführliches Briefing zum Aufbau ihrer Geschichte. In manchen Fällen kann es sinnvoll sein, wenn Vertreter:innen des Hosting-Teams die Geschichte gemeinsam mit den Storytellern erarbeiten.
- Manche Teilnehmer:innen an Collective-Story-Harvesting-Einheiten berichten von „fomo“-Gefühlen („fear of missing out“), da die Teilnahme nur an einem Geschichtenkreis möglich ist. Dem kann begegnet werden, indem man am Beginn bei der Einführung in die Methode gut vermittelt, dass es hier nicht um den „Konsum“ möglichst vieler Geschichten geht, sondern um ein Eintauchen in die tiefere Struktur erlebter Geschichten, auch um die Würdigung der Storyteller, die ja meistens Menschen sind, die etwas Besonderes gewagt und geleistet haben, und um das gemeinsame Lernen.
Abwandlungen
- Abhängig davon, wie viel Zeit zur Verfügung steht und wie geübt die Storyteller sind, können die Erzähl-Einheiten länger oder kürzer ausfallen (und spiegelbildlich dann auch das Ernten in der Kleingruppe).
- Wenn viel Zeit zur Verfügung steht und/oder es besonders viele Geschichten gibt, können zwei Runden durchgeführt werden, sodass jede Geschichte zwei Mal erzählt wird und jede:r Teilnehmer:in zwei Geschichten zuhören kann.
- Wenn es viele Erzähler:innen und nicht genug Teilnehmer:innen gibt, kann man sich ebenfalls mit zwei Durchgängen behelfen (zum Beispiel in der ersten Runde vier Geschichten und in der zweiten Runde die nächsten vier Geschichten).
- Bei ausreichend zeitlichen Ressourcen kann an das Collective Story Harvesting auch ein World Café mit Ernte-Fragen angeschlossen werden. Das ist eine gute Möglichkeit, die Gruppen zu mischen und das Gehörte aus den Kleingruppen schnell in die gesamte Großgruppe zu bringen.