Praxisbeispiel

GLARA: Partizipative Stadtgestaltung mit Augmented + Virtual Reality

Gehsteigaufkleber
AR Marker am Gehsteig (c) Fluxguide
Praxisbeispiel GLARA
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LAND / BUNDESLAND
Wien
DAUER
Oktober 2021 - Juli 2022, März 2023

Projektbeschreibung

Das Forschungsteam „GLARA“ entwickelte einen innovativen Beteiligungsprozess für Projekte mit Begrünungsgestaltungen im urbanen Raum – unterstützt durch Augmented- und Virtual Reality Visualisierungen für mikroklimatische Effekte. Damit werden zukünftige Auswirkungen von Planungen spielerisch und einfach verständlich vermittelt. Das Konzept wurde in Kooperation mit dem 7. Wiener Gemeindebezirk bei der Umgestaltung der Bernardgasse umgesetzt und getestet.

Anlass und Hintergrund

Anlässlich anstehender Instandhaltungsarbeiten auf der gesamten Länge (530m) der Bernardgasse in Wien Neubau soll die Gelegenheit für eine umfassende Umgestaltung der Straße genutzt werden. Dabei soll ein zukunftsfittes Ergebnis erzielt werden, das die Wünsche und Bedürfnisse der Bürger:innen berücksichtigt und sich in das umliegende Grätzl nachhaltig gut einfügt. Aus diesem Grund initiierte die Bezirksvorstehung des 7. Wiener Gemeindebezirks die Durchführung eines Beteiligungsprozesses in Kooperation mit dem Forschungsteam GLARA, das für Konzept und Umsetzung verantwortlich war.

Bei der Umgestaltung ging es bei der Bernardgasse als innerstädtischem Straßenraum, der hauptsächlich durch Wohnnutzung geprägt ist, vorrangig um folgende Themen:

  • Begrünung/Entsiegelung
  • Verkehr/Verkehrsberuhigung
  • Flächenverteilung
  • Lärmbelästigung
  • Verschmutzung
  • Historischer Ensembleschutz

Betroffen von der Umgestaltung sind vor allem Anrainer:innen der Straße, einige Gewerbetreibende unter denen sich verhältnismäßig wenige zur Straße hin offene Geschäftslokale befinden, zwei Vereine, ein Kindergarten sowie die Anrainer:innen der Umgebung, die die Straße zum Durchqueren oder Parken nützen.

Zum Forschungsprojekt

GLARA ist ein partizipativer Planungsservice, welcher bei der Gestaltung von Straßen- und Freiräumen die Evaluierung von Begrünungsmaßnahmen ermöglicht und begleitet. Mittels 3D Visualisierungstechnologien in Augmented Reality und Virtual Reality werden begrünte Stadtraumplanungen anschaulich dargestellt und vor allem deren unmittelbare positive Auswirkungen auf das Mikroklima intuitiv erlebbar gemacht. Insbesondere bei Projekten mit starkem Nutzungsdruck bei nebeneinander bestehenden Bedürfnissen (z. B. Baum vs. Verkehrsfläche) erleichtert diese konkrete Darstellung den Entscheidungsprozess.

Die Visualisierung konzentriert sich dabei bewusst auf jene Auswirkungen, die den größten Einfluss auf das menschliche Wohlbefinden haben: Gefühlte Temperatur, Oberflächentemperatur und Windgeschwindigkeit. Die Datenbasis dazu beruht auf den Simulationsergebnissen der GREENPASS-Analysen. Ein direkter und persönlich nachvollziehbarer Vergleich zwischen Status quo und zu erwartenden mikroklimatischen Auswirkungen eines Planungsentwurfs wird so erstmals möglich. Infoboxen zu weiteren relevanten Parametern wie CO2-Aufnahme durch die Begrünungen, ermöglichen es Bürger:innen, spielerisch Unterschiede in den Planungsszenarien zu entdecken.

Ziel(e)

Die bauliche Umgestaltung öffentlichen Raums im städtischen Bereich ist aufwändig und gibt in der Regel eine Richtung für die kommenden Jahrzehnte vor. Ein solches Projekt ist daher mit großer Verantwortung verbunden und muss umso mehr in Zeiten des Klimawandels zukunftsfit geplant werden. Urbane Hitzeinseln, Versiegelung und Mobilitätsfragen spielen dabei derzeit die größten Rollen. Im Rahmen des Beteiligungsprozesses sollten daher diese Themen, ihre Bedeutung und ihre Auswirkungen gezielt und verständlich vermittelt werden, damit auch die Partizipation auf einer informierten Basis stattfinden kann.

Durch die Kombination von klassischen analogen Methoden und digitalen Instrumenten mit einem großen Vermittlungspotenzial soll außerdem eine räumliche und zeitliche Entkoppelung stattfinden, die es mehr Menschen ermöglicht, teilzuhaben.

Prozessdesign und Ablauf

Der Beteiligungsprozess zur Umgestaltung der Bernardgasse fand in zwei Schleifen statt und konnte damit ein seltenes, aber wichtiges Element für eine erfolgreiche Beteiligung umsetzen: Das Zurückspielen eines Entwurfsstands an die Bevölkerung und Diskutieren der Gestaltung. Was heißt das konkret? Zu Beginn fällt es vielen Menschen noch schwer, konkrete Meinungen zu Gestaltungsmöglichkeiten zu formulieren, ohne sich an einem bestehenden Entwurfskonzept zu orientieren. In der ersten Schleife ging es vor allem darum, den Status quo zu erheben und die Wünsche und Bedürfnisse der Beteiligten zu ermitteln sowie Erhaltenswertes und Problemstellen zu identifizieren. Auf dieser Basis wurde von einem Planungsteam der Stadt Wien ein Zwischenentwurf gestaltet, der erst in der zweiten Schleife mit den Bürger:innen diskutiert wurde. In dieser zweiten Phase ging es dann darum, noch mögliche Gestaltungsspielräume zu definieren und den Bedarf nach verschiedenen Funktionen im Straßenraum (Begrünung, wegbegleitendes Spiel, Fahrradinfrastruktur, Aufenthaltsgelegenheit, Wasser) konkret zu verorten.

Ablauf des Beteiligungsprozesses “Bernardgasse” in zwei Schleifen (c) superwien

Zur Beteiligung wurden alle Anrainer:innen der Bernardgasse sowie eines erweiterten Zielgebiets per Postwurfsendung eingeladen. Zusätzlich wurden alle Gewerbetreibenden und Multiplikatoren wie ansässige Vereine und Interessensvertretungen direkt kontaktiert sowie die Information mittels Plakaten in den Geschäften der Umgebung und in den Hauseingängen des Zielgebiets gestreut.

Der Ablauf und die eingesetzten Methoden ähnelten einander in beiden Phasen, da sich die Beteiligungswerkzeuge aus der ersten Schleife (14. 10. – 07. 11. 2021) bewährten und in der zweiten Phase (22. 06. – 10. 07. 2022) dann bereits bekannt waren:

  • Abendveranstaltung zum Start jeder Phase mit Informations- und Workshopteil
  • aufsuchende Beteiligung vor Ort mittels mehrtägiger Info-Points
  • Fragebogen (online und im Print)
  • GLARA-App mit Visualisierung des mikroklimatischen Status quo (1. Schleife) und mit Vergleich zum Planungseffekt (ab 2. Schleife) inkl. Funktionsdemos vor Ort
  • Spaziergang unter Anwesenheit der städtischen Planungsexpert:innen (nur 2. Schleife)
Emotional Mapping auf der Infoveranstaltung zum Auftakt (c) Fluxguide
Spaziergang durch die Bernardgasse mit Planungsexpert:innen und …
Goals-Grid Analysis in Kleingruppenarbeit (c) Bezirksvorstehung Neubau
… Einsatz der GLARA-App (c) beide Fotos: tatwort

Die Vorteile der neu entwickelten App kamen besonders in der zweiten Phase zum Einsatz. Hier konnte der mikroklimatische IST-Zustand mit den zu erwartenden Effekten des Zwischenentwurfs verglichen werden. (Mikroklimasimulation auf Basis des GREENPASS.) Zusätzlich bot die 3D Visualisierung ein Bild der Planungsvision, wobei in der App bewusst auf eine fotorealistische Inszenierung (wie bspw. bei gängigen Renderings) verzichtet wurde und nur das Konzept vermittelt werden sollte. Gleichzeitig gab es mittels Snapshotfunktion und Link zur Umfrage auch direkt Feedbackmöglichkeiten in der App.

Simulation der Oberflächentemperatur im Status quo (VR) (c) Fluxguide
Simulation im Planungs-Entwurf (c) Fluxguide

Nach Abschluss der zweiten Beteiligungsphase wird der Entwurf auf Basis der Ergebnisse finalisiert. Im Frühling 2023 soll eine Abschlusspräsentation des überarbeiteten Entwurfs stattfinden, bevor die Bauarbeiten starten.

Ergebnisse des Beteiligungsprozesses

Berichte zu den detaillierten Ergebnissen der beiden Beteiligungsschleifen stehen auf der GLARA-Projektwebsite zum Download zur Verfügung. Ein White Paper mit allen Beteiligungszahlen, Zusammenfassung und Analyse des gesamten Prozesses ist am Ende dieses Beitrags verlinkt.

Zusammengefasst war es einer großen Mehrheit der Teilnehmer:innen sehr wichtig, dass der ruhige Wohncharakter der Straße erhalten bleibt bzw. sogar noch verstärkt wird. Unter anderem daraus leitet sich dann auch weiter ab, dass von vielen ein starker Wunsch nach mehr Begrünung und nach einer deutlichen Verkehrsreduktion formuliert wurde. Auch der sensible Umgang mit dem biedermeierlichen Häuserensemble der Gasse war ein oft vorgetragener Wunsch. Im vorlegten Zwischenentwurf wurde diesen Bedürfnissen nach einer beruhigten Gestaltung unter anderem Rechnung getragen, indem die Planung als „echte“ Wohnstraße angelegt wurde. Das heißt, dass Maßnahmen getroffen werden sollen, um auch jeglichen Durchfahrtsverkehr zu vermeiden. Zentral dafür ist der Wegfall aller Dauerparkplätze, um auch Park-Suchverkehr zu verhindern. Sowohl die Umfrageergebnisse der zweiten Schleife als auch die Ergebnisse einer externen Umfrage der Bezirkszeitung Neubau bestätigen diesen Ansatz. Der Großteil der Teilnehmer:innen begrüßt die Lösung; Widerstände gegen den Wegfall aller Parkplätze – hauptsächlich zu Gunsten von Begrünung –  sind verhältnismäßig gering.

Warum es sinnvoll war, mit Beteiligung zu arbeiten

Durch die interaktive und unmittelbare Einbindung der Nachbarschaft in die Umgestaltung des öffentlichen Raumes wird eine größere Zufriedenheit und Identifikation mit dem Freiraum erzielt. Dadurch wird höhere Planungsqualität geschaffen und potentiell hohe (Folge-)Kosten durch Vermeidung von Fehlplanungen werden vermieden. In weiterer Folge wird durch den größeren Rückhalt aus der Bevölkerung die Errichtung Grüner Infrastrukturen als Maßnahme zur urbanen Klimawandelanpassung für Entscheidungsträger:innen erleichtert.

Bei den Teilnehmer:innen konnte durch den Beteiligungsprozess nicht nur ein größeres Verständnis für die Bedürfnisse und Positionen ihrer Nachbar:innen erzeugt werden – es wurden dadurch auch neue Kontakte geknüpft, das Gemeinschaftsgefühl gestärkt und sogar einzelne nachbarschaftliche Initiativen für den öffentlichen Raum angestoßen.

Die Planer:innen erhielten wertvolle Einblicke in die spezifischen Themenspektren vor Ort und konnten damit gezielt auf Problemstellungen eingehen.

Erfahrungen zum Weitergeben / Lessons learned

  • Die ideale Beteiligung muss von Anfang an mitgedacht werden und den gesamten Planungsprozess begleiten. Die frühe Partizipation in der konzeptionellen Phase erhöht die Identifikation mit dem Projekt und ermöglicht relevante Mitsprache bei bedeutenden Entscheidungen.
  • Mehrere Feedbackschleifen im Prozess erlauben laufende Information an und Inputs aus der Bevölkerung.
  • Der Prozess soll breit aufgestellt sein, viele Menschen erreichen und auch die Kommunikation zwischen den planenden Akteur:innen (Politik, Verwaltung, etc.) verbessern.
  • Der Handlungsspielraum muss für die Beteiligten klar abgesteckt sein. Innerhalb dieses Rahmens soll der Prozess möglichst ergebnisoffen sein.
  • Die komplexen Inhalte der Planung müssen gut aufbereitet, einfach und klar kommuniziert werden. Am Beispiel von GLARA heißt das: optimale Begrünung im urbanen Raum ist nicht automatisch gleichbedeutend mit dem Pflanzen von maximal vielen Bäumen. Im Zentrum des Beteiligungsprozesses stehen Diskussionen über unterschiedliche Ansprüche an den Raum und dessen Nutzung. Welche Aktivitäten wo stattfinden können, sollte möglichst früh besprochen werden, um potenzielle Konflikte zu erkennen.
  • Ein intensiver Beteiligungsprozess soll auch Raum und Zeit für Diskussionen in unterschiedlichen analogen Formaten bieten.
  • Zusätzlich können digitale Tools durch spielerische Zugänge und innovative Formen der Wissensvermittlung neue Zielgruppen ansprechen, die bisher vernachlässigt wurden.
  • Am Ende des Planungsprozesses sollten die Entscheidungen und ihr Zustandekommen klar kommuniziert werden. Dabei sollte ersichtlich werden, wie und warum Inputs aus dem Beteiligungsprozess in den finalen Entwurf eingeflossen sind. Die Umsetzung sollte dann möglichst zeitnah geschehen, um sichtbare Erfolge an den Partizipationsprozess zu koppeln.

Auftraggeber:in

Bezirksvorstehung Wien Neubau

Prozessbegleitung und -beratung

Forschungsprojekt GLARA – Green Living Augmented+virtual ReAlity. (GLARA wird aus Mitteln des BMDW gefördert und im Rahmen der Programmlinie COIN der Österreichischen Forschungsförderungsgesellschaft durchgeführt.)

Kosten und Finanzierung

Finanziert durch die Bezirksvorstehung Wien Neubau und gefördert über die Kooperation mit dem Forschungsprojekt GLARA mit Mitteln des BMAW im Rahmen der FFG-Programmlinie COIN.



Ansprechpartner:in

Konsortialleitung

Doris Allerstorfer

tatwort Nachhaltige Projekte GmbH
Haberlgasse 56/3
1160 Wien
+43 1 409 55 81-215