Methode

Bürger:innenrat (Citizens‘ Assembly)

ANZAHL DER BETEILIGTEN
Größere Gruppen (ab ca. 30 Personen)
DAUER DER DURCHFÜHRUNG
1 Tag bis max. 1 Woche
Einige Wochen
Einige Monate
STUFE DER BETEILIGUNG
Konsultation
Mitbestimmung
FORM DER BETEILIGUNG
Analog
Digital
ZWECK DER DURCHFÜHRUNG
Gemeinsam planen und entwickeln, Problem / Feld analysieren, Meinungen / Reaktionen einholen, Längerfristig zusammenarbeiten, Aktivieren, Vernetzen, Konflikt lösen
FÜR KONFLIKT GEEIGNET
Ja

Allgemein

Citizens‘ Assemblies sind ein Instrument der Politikberatung. Sie sind als Form der partizipativen und deliberativen Demokratie ergänzend zum repräsentativ-demokratischen System zu sehen.

Zentrale Akteur:innen sind zufällig ausgewählte Bürger:innen, die sich über einen längeren Zeitraum (meist mehrere Wochen bis Monate) intensiv mit einem komplexen und gesellschaftlich umstrittenen Thema auseinander setzen und Handlungsempfehlungen für politische Entscheidungsträger:innen erarbeiten. Zur bindenden Umsetzung dieser Empfehlungen kommt es dann entweder auf direkt-demokratischem Weg mit Volksabstimmungen oder Bürgerentscheiden (vgl. Irland 2013/14) oder durch politische Beschlüsse von (Landes-)Regierungen.

Bekannte Beispiele für Citizens‘ Assemblies aus dem europäischen Raum sind:

  • Irland (2013/14 – abgewandelte Form, 2016-18, 2020/21) zu u.a. Themen wie Zulassung gleichgeschlechtlicher Ehen, Verfassungsreformen, Abtreibungsverbot, Gendergerechtigkeit
  • Frankreich (2019/20), Großbritannien (2020), Deutschland (2021), Österreich (2022) jeweils zum Thema Maßnahmen gegen die Klimakrise
  • Schottland (2019-2021) zum Thema zukünftige Entwicklung des Landes, inklusive Herausforderungen die sich durch Brexit ergeben
  • Deutschland (2019, 2021) zu den Themen Demokratie und Mitbestimmung sowie Empfehlungen für Deutschlands Außenpolitik

Citizens‘ Assembly wird im Deutschen meist als „Bürger:innenrat“, teilweise aber auch als „Bürger:innenversammlung“ übersetzt.

Ablauf

Citizens‘ Assemblies können in ihrem Ablauf, zeitlichen Rahmen, Anzahl der teilnehmenden Bürger:innen und zugrunde liegender Fragestellung stark variieren.

Zentrales Kriterium ist die zufällige Zusammensetzung der teilnehmenden Bürger:innen, die in der Regel via Losverfahren ermittelt werden. Es wird darauf geachtet, dass sie ein Abbild der Bevölkerung darstellen, d.h. repräsentativ für die zugrundeliegende Gesamtbevölkerung sind hinsichtlich vorher definierter (soziodemografischer) Kriterien wie z.B. Alter, Geschlecht, Bildungsstand, Haushaltseinkommen, Migrationshintergrund. So soll sichergestellt werden, dass unterschiedliche und vielfältige Perspektiven und Erfahrungswerte zusammenkommen und bei der Lösungsfindung berücksichtigt werden, auch jene Stimmen die sonst oft nicht gehört werden. Die Anzahl der Bürger:innen hängt ab von der Größe der Gemeinde bzw. des Landes, der zu behandelnden Fragestellung sowie der zur Verfügung stehenden Ressourcen. Eine höhere Teilnehmendenzahl kann die Akzeptanz in der Bevölkerung stärken, 50-200 Teilnehmende haben sich etabliert.

Im Folgenden wird der übliche Ablauf skizziert, wobei es auch Citizens‘ Assemblies mit abweichendem Verlauf gibt.

1.

Initiative

Die Einrichtung eines Citizens‘ Assembly erfolgt häufig, aber nicht ausschließlich, auf Beschluss von (Landes)Regierungen. Nicht selten geht einem entsprechenden Beschluss jedoch auch Druck aus der Zivilgesellschaft voraus (vgl. z.B. den französischen Bürger:innenrat 2019, der nach dem Gelbwesten-Protest vom Präsident Emanuel Macron ins Leben gerufen wurde; oder den österreichischen Klimarat 2022, wo das Klimavolksbegehren die Mitbestimmung der Bevölkerung über Klimaschutzmaßnahmen forderte woraufhin das Parlament einen Entschließungsantrag stellte und die Bundesregierung mit der Umsetzung des Klimarats beauftragte).

2.

Vorbereitungsphase

Die Aufgaben in der Vorbereitungsphase umfassen u. a.:

  • Festlegung des Arbeitsauftrags, meist in Form einer klar definierten Fragestellung, zu der sich die teilnehmenden Bürger:innen beraten und Lösungen erarbeiten sollen.
  • Festlegen der Adressaten, die am Ende die Ergebnisse entgegennehmen (z. B. Regierung oder Parlament) und festlegen, was dann mit den Ergebnissen passieren wird.
  • Festlegung der Anzahl der Bürger:innen, Festlegung der Kriterien, anhand derer diese Bürger:innen repräsentativ für die Gesamtbevölkerung sein sollen; zufällige Auswahl dieser Bürger:innen durch Losverfahren.
  • Planung des Prozessdesigns inklusive Termine, Moderation, Methodenauswahl, eventuelle (Unter-) Themenbereiche und Input von Expert:innen.
  • Organisatorische Vorbereitung inklusive Planung der Arbeitswochenenden, Logistik.
  • Einrichtung von begleitenden Gremien, z.B. wissenschaftliches Begleitgremium und Einbindung weiterer Stakeholder (Betroffene und/oder Interessensvertreter:innen).
  • Konzipierung der Öffentlichkeitsarbeit.
3.

Arbeitsphase

Es finden in der Regel mehrere Sitzungen in einem Zeitraum von mehreren Monaten statt. Das können z.B. regelmäßige kürzere (Online-)Sitzungen oder auch ganze Arbeitswochenenden sein.

Während der ersten Sitzung(en) ist wichtig, dass die teilnehmenden Bürger:innen einander kennen lernen sowie ihre Rolle und ihren Arbeitsauftrag verstehen. Abläufe und Erwartungen werden geklärt. Gegebenenfalls werden die Themen der einzelnen Sitzungen sowie die einzuladenden Expert:innen und deren Inputs, basierend auf den Wünschen und Rückmeldungen der teilnehmenden Bürger:innen, geplant bzw. angepasst.

Relevante Fakten, Hintergrund- und Kontextinformationen zum Ausgangsthema werden zur Verfügung gestellt. Expert:innen (meist Wissenschaftler:innen oder Fachexpert:innen aus der Verwaltung, aber auch Betroffene oder diverse Interessensvertreter:innen) stehen für Inputs, Fragen und Austausch zur Verfügung.

Anschließend erarbeiten die Bürger:innen Handlungsempfehlungen, die sie am Ende auch gemeinsam beschließen. Hierbei werden sie von einem professionellen Moderationsteam begleitet. Die Sitzungen werden methodisch den jeweiligen Anforderungen entsprechend gestaltet und umfassen üblicherweise einen Methodenmix aus Inputs, Plenardiskussionen und Kleingruppenarbeit. Um tiefgehende Diskussionen zu ermöglichen und die Ausgewogenheit der Beteiligung sicher zu stellen, finden die inhaltlichen Diskussionen sowie das Erarbeiten der Handlungsempfehlungen in der Regel v. a. in Kleingruppen statt.

Manchmal wird während des Prozesses auch die breite Öffentlichkeit konsultiert, um die Stimmung in der Bevölkerung zu bzw. Akzeptanz von umstrittenen Themen und Empfehlungen besser abschätzen zu können.

4.

Übergabe an Entscheidungsträger:innen und Umsetzung

Die erarbeiteten und beschlossenen Handlungsempfehlungen werden in einem Empfehlungsbericht zusammengefasst und an das vorher festgelegte politische Gremium übergeben. Diese sichten die Ergebnisse und verfahren wie in der Vorbereitungsphase festgelegt (z. B. Behandlung der Empfehlungen im Parlament inkl. Entscheidung darüber, was umgesetzt, überarbeitet oder abgelehnt wird inkl. anschließender Umsetzung; oder Abhaltung einer Volksabstimmung o.ä. zu den Empfehlungen des Citizens‘ Assemblies).

Eine transparente Dokumentation des gesamten Prozesses ist wichtig, um die Akzeptanz in der breiten Öffentlichkeit sowie bei politischen Entscheidungsträger:innen zu erhöhen. Hierfür ist auch eine gute mediale Begleitung und zivilgesellschaftliche Einbindung ausschlaggebend.

Idealerweise wird der Gesamtprozess von einem unabhängigen wissenschaftlichen Evaluationsteam begleitet und evaluiert.

Organisatorisches

  • Aufgrund der Dauer (meist mehrere Monate), des Vorbereitungs- und Begleitaufwandes (prozessual wie organisatorisch) sowie der großen Teilnehmendenzahl ist die Organisation von Citizens‘ Assemblies meist sehr kosten-, personal- und zeitaufwändig.
  • Zwischen den Sitzungen ist eine gute Betreuung der Bürger:innen sowie das Bereitstellen aller nötigen Informationen wichtig (sowohl inhaltlich als auch organisatorisch z.B. zu Zeit, Ort, Anfahrt der nächsten Sitzungen).

Zu beachten

Neben der zufälligen Auswahl der teilnehmenden Bürger:innen, sind folgende Kriterien entscheidend für das Gelingen und die gute Qualität eines Citizens‘ Assembly (vgl. auch den OECD Report: Innovative Citizen Participation and New Democratic Institutions: Catching the Deliberative Wave, 2020, Kapitel 5):

  • Das zu bearbeitende Thema sollte von hohem öffentlichem Interesse sein, der Arbeitsauftrag muss klar definiert sein.
  • Es muss (vor Beginn) klar sein, wer der Adressat ist, der am Ende die erarbeiteten Ergebnisse entgegennimmt (z.B. Regierung oder Parlament) und was mit den Ergebnissen dann passiert (z.B. welche Gremien sich damit befassen oder ob eine Volksabstimmung oder -befragung folgen wird).
  • Es braucht genügend Zeit um Wissenserwerb und Austausch der Bürger:innen untereinander sicher zu stellen.
  • Inklusivität und Barrierearmut müssen gegeben sein, z.B. indem alle Kosten (Anreise, Unterkunft, Kinderbetreuung) übernommen werden, wenn möglich eine Aufwandsentschädigung gezahlt wird und auch indem auf spezielle Bedürfnisse der Teilnehmer:innen eingegangen wird (z.B. Schwerhörigkeit, Gehbeeinträchtigung, Unsicherheit im Umgang mit Computern & Videokonferenzen).
  • Um die Ausgewogenheit der Beteiligung sicher zu stellen, braucht es eine professionelle und inhaltlich neutrale Moderation sowie ein divers zusammengesetztes Moderationsteam betreffend Alter, Geschlecht, Herkunftsland u.a.
  • Den Teilnehmenden müssen umfassende und alltagsverständliche Informationen zum Thema zur Verfügung gestellt werden. Expert:innen (z. B. Wissenschaftler:innen, aber auch ggf. Betroffene) stehen den Bürger:innen zur Verfügung. Auch die diversen Stimmen verschiedenster Interessensvertreter:innen können beratend herangezogen werden.
  • Größtmögliche Transparenz des Prozesses und eine gute mediale Begleitung sind wichtig, um die Ergebnisse für die Gesamtbevölkerung, bei politischen Entscheidungsträger:innen und in der Verwaltung anschlussfähig zu machen.
  • Um die Qualität sicherzustellen, ist eine begleitende wissenschaftliche Evaluierung zu empfehlen.

Nicht geeignet für

Die Methode ist nicht geeignet,

  • um schnell Entscheidungen zu treffen bzw. Lösungen zu finden;
  • um Fragestellungen zu behandeln, wo kein Handlungsspielraum besteht bzw. wo keine ergebnisoffene Diskussion der Teilnehmenden möglich ist;
  • wenn der Prozess nicht klar definiert ist und Auftrag bzw. Verwertung der Ergebnisse unklar sind bzw. kein politischer Wille besteht, die erarbeiteten Empfehlungen ernst zu nehmen und (teilweise) umzusetzen;
  • wenn zu wenig Ressourcen, interessierte Bürger:innen oder Fachwissen vorhanden sind.

Abwandlungen

Der Begriff „Bürger:innenrat“ wird nicht eindeutig verwendet. Neben Citizens‘ Assemblies werden v. a. Wisdom Councils, gelegentlich auch Bürger:innen-Jurys, Bürger:innenkonvents, Bürger:innenversammlungen und andere als „Bürger:innenrat“ übersetzt.

Der Unterschied zwischen den Wisdom Councils nach Jim Rough und Citizens‘ Assemblies liegt primär im Umfang des Teilnehmer:innenkreises (<20 vs. >meist 100) und der Dauer des Beratungsprozesses (ein Wochenende vs. meist mehrere Wochenenden bzw. Sitzungen im Zeitraum von mehreren Monaten). Während es sich bei Wisdom Councils um vergleichsweise schnell durchführbare, kosteneffiziente und flexible Partizipationsverfahren handelt, erfordern die Citizens‘ Assemblies einen erheblich höheren finanziellen und organisatorischen Aufwand.

Teilweise bezieht man sich bei Bürger:innenräten auch stärker auf bestimmte Formate oder auf einzelne Themenfelder (z. B. Jugend, Klima, Zukunft …) und verzichtet damit auf die spezifische Definition als Citizens‘ Assembly. Stattdessen werden die Räte als „Klimarat„, „Jugendrat“ oder „Zukunftsrat“ bezeichnet, unabhängig davon, um welche Variante von Bürger:innenrat es sich handelt.

Auch im „wie und wozu diese beauftragt werden“ kann es Unterschiede geben, was sowohl von der Methode als auch von regionalen Unterschieden abhängt.

Je nach Thema werden bei manchen Citizens‘ Assemblies auch bestimmte Bevölkerungsgruppen bewusst überrepräsentiert (vgl. z. B. Europäisches Bürgerforum: Hier war ein Kriterium, dass mindestens ein Drittel der Teilnehmenden junge Menschen zwischen 16 und 25 Jahren sind). Außerdem gibt es Mischformen, wie z .B. die Convention on the Constitution in Irland (2013/14), bei der 66 Bürger:innen zufällig gelost wurden, aber auch 33 Politiker:innen beteiligt waren (Die späteren Assemblies in Irland bestanden dann nur mehr aus gelosten Bürger:innen).


Weiterführende Informationen